Warum Unternehmen selbst denken und abwägen müssen

Dass ESG- und CSR-Berichterstattung nicht nur umfänglicher sein muss, sondern zukünftig auch von mehr Unternehmen als je zuvor verlangt wird, ist gesetzt. In Europa sorgt hierfür die Regulierung der Finanzmärkte (etwa mittels der ESG-Taxonomieverordnung oder der Offenlegungsverordnung der EU) bzw. der unternehmerischen Verantwortung (CSR-Richtlinie). Deutschland tut sein Übriges, etwa mit dem Lieferkettengesetz oder dem Verbandssanktionengesetz. Hinzu kommen Finanzmärkte, die die Erfüllung von ESG-Kriterien immer mehr goutieren. Das Pharmaunternehmen Grünenthal hatte jüngst Probleme, eine Anleihe zu platzieren – wegen ESG-Bedenken der Anleger in Zusammenhang mit Opiatprodukten. Der US-Großinvestor Blackrock fordert indes bei „seinen“ Unternehmen, die Vergütung der Manager an ESG-Kriterien zu knüpfen. Daimler Benz hat angekündigt, ab 2035 alle Zulieferer auszusortieren, die nicht CO2-neutral sind. Und Google geht nun sogar soweit, seine Künstliche Intelligenz nicht mehr an die Ölindustrie zu liefern: Die ganze Industrie sei für Google-Produkte nicht „sauber“ genug.

Auf den Plan tritt eine Ranking- und Ratingindustrie, die das alles vergleichbar und damit umsetzbar machen soll – am besten mit Big Data und KI-Technologie.

Ratings und Rankings

Dabei sind die ESG-Rankings als substantielle Rankings der Unternehmenswirklichkeit zu betrachten. Deren Probleme schauen wir uns an anderer Stelle an.

Hier soll es um jene Rankings gehen, die CSR-Berichte in den Blick nehmen. Schauen wir auf die – noch überschaubare – Liste der ESG- und CSR-Berichtsrankings, ist die Sache klar: Unternehmen seien allenfalls die Hälfte des Weges gegangen – wenn überhaupt. Die Autoren der Ratings deuten die Berichtsdefizite so, dass Unternehmen wenig zur Lösung global drängender Probleme beitragen. Tatsächlich versuchen Anbieter nach bestem Wissen und Gewissen die ESG- und CSR-Berichte der Unternehmen zu systematisieren, sie vergleichbar und zweckmäßig zu kategorisieren, zu messen und auszuwerten. Damit erfüllen sie einen Bedarf an Standardisierung, Vergleichbarkeit und Einfachheit – trotz der enormen sachlichen und ethischen Komplexität der Materie.

Zunächst sei hier der „Global ESG Monitor“ herausgegriffen. Methodik und Datenumfang betreffend ist er als State of the Art zu betrachten. Das Ranking identifiziert – differenzierend nach verschiedenen Branchen (Best-in-Class-Ansatz) – die jeweiligen Industrieführer bei der Erfüllung von ESG-Kriterien. Dabei zeigt sich, dass die Unterschiede in der Qualität der Berichte enorm sind. Die Studie bemängelt vor allem, dass nur ein Viertel der Unternehmen methodische Ausführungen zu ihren Berichten präsentieren. Mit ESG-Verfehlungen gehen nur knapp 41 Prozent der Berichte transparent um. Der ESG Monitor hat eine Fülle methodischer Fallstricke pragmatisch lösen müssen. Das ist gut so. Schließlich wird so überhaupt eine Standortbestimmung möglich.

Auch Net Federation (NetFed), die sowohl Breite wie auch Tiefe der ESG- bzw. CSR-Kommunikation messen wollen, zeigen Defizite auf. Es fehle insbesondere an einer ganzheitlichen Kommunikation, erklärt Studienleiter Christian Berens im Handelsblatt (08. April 2021). Ein weiterer Kritikpunkt sei, dass zwar Geschichten erzählt würden, diese jedoch unzureichend mit Daten belegt würden.

Verkürzte Konzepte

Untersuchungen dieser Art haben jedoch mindestens zwei methodische Vorbehalte. Erstens: Weil die Studienleiter Unternehmen und deren CSR-Berichte gut vergleichbar erfassen wollen, werden Konzepte oft verkürzt. So wird bei NetFed das Konzept „Haltung“ vor allem mit Normen und Werten wie Diversity, Gendergerechtigkeit und digitaler sozialer Verantwortung operationalisiert. Haltung jedoch besteht nicht nur aus Werten, sondern auch aus Einstellungen und Sichtweisen auf die Welt: z.B. ob eine Person oder ein Unternehmen optimistisch, pessimistisch, ängstlich, zutraulich, misstrauisch oder selbstvertrauend auf die Welt blickt und wie sie ihre Rolle darin sieht. Ganz abwegig ist die derzeit immer häufiger zu beobachtende Verkürzung des Haltungsbegriffes: Eine reine Meinungsäußerung, besonders wenn diese unkontrovers erscheint, kann noch nicht als Haltung bezeichnet werden! Erst die Kombination aus Werten, der Einstellung zur Welt und dem Umgang mit Widerstand macht das Haltungskonzept so interessant. Haltung in dem Sinne führt dazu, sich nicht zu krümmen, niederdrücken zu lassen oder sich wegzuducken – wenn und wo dies doch der einfachere Weg wäre.

Ähnlich verbesserungswürdig ist die Messung von Glaubwürdigkeit. NetFed misst diese an dem Vorhandensein von Testimonials von Mitarbeitern. Zum einen werden die Leser dieser CSR-Berichte kaum einschätzen können, wie glaubwürdig die Testimonialurheber sind. Zum anderen führt dies nicht per se zur Glaubwürdigkeit von Unternehmen und Management, weil gerade in den hochglänzenden CSR-Berichten und Websites das Eigene und Authentische der Unternehmenskultur zu verschwinden droht. Storytelling und die harmonische Eingliederung des CSR-Berichtes in die Markenpositionierung des Unternehmens ändert daran nichts. Die Grundskepsis gegenüber Hochglanz-PR, die viele Stakeholder auszeichnet, wird damit eher befeuert.

Was ist "gut"?

Das zweite Problem ist ein grundsätzliches: Die CSR-Berichtsrankings setzen voraus, dass klar erkennbar ist, was „gute“ unternehmerische Verantwortung ist. Gendergerechte Sprache ist beim Ranking der NetFed ein Muss. Das steht im Kontrast zu den Debatten darüber, die in diesem Land an Millionen von Küchen- und Mensatischen geführt werden. Auch wenn die öffentlich-rechtlichen Sender dazu übergehen, ihren Sprachgebrauch genderpolitisch zu verändern, zeigen demoskopische Erhebungen von Infratest Dimap, dass die deutliche Mehrheit der Deutsch*innen die gendergerechte Sprache ablehnt. Dazu kann man stehen, wie man will, der Fakt der Umstrittenheit ist so, wie er ist. Darum ist es gerade nicht so, dass Unternehmen, die ihre CSR-Berichtspflichten erfüllen und in Rankings entsprechend hochrücken, zufriedene Stakeholder haben. Im Gegenteil kann sie umso härter das von uns so bezeichnete „Reputationsdilemma“ treffen: Was sie bei den einen Stakeholdern an Reputation durch eine Veränderung ihrer Kommunikation gewinnen, das verlieren sie bei anderen wieder.

Dieses Problem wird noch dadurch verstärkt, dass die ESG- und CSR-Kriterien zueinander in der Praxis durchaus nicht widerspruchsfrei sind. An anderer Stelle haben wir darauf hingewiesen, dass ethischen Dilemmata in den ESG-Kriterien und Rankings verschwinden.

Sie machen unsichtbar, dass Unternehmen ethische Abwägungen zu treffen haben und dies weder Ratingagenturen noch Künstliche Intelligenz noch Berater für sie tun können.

Bei der Abwägung solcher Interessen wird es jedoch – wie schon bei den alten Griechen – typischerweise verschiedene Auffassungen geben. Die Rankings verbergen den Grundsachverhalt unserer demokratischen Ordnung: Sie beruht auf legitimer Meinungsvielfalt. Das Gute – jenseits des Verfassungskerns in Form der freiheitlich-demokratischen Grundordnung (fdGO) – ist nicht nur faktisch umstritten, sondern darf und soll umstritten sein. Insofern ist die Forderung nach Gleichheit (gegen Rassismus, Sexismus, Diskriminierung u.Ä.) auch ethisch von höherer Verbindlichkeit als die Forderung nach einer gendergerechten Sprache oder die Einführung von Diversity-Quoten. Zum Beispiel ist ersteres Teil der fdGO und damit Teil des Wertkonsens der Bundesrepublik, wohingegen Sprache und Quoten als Mittel der Wertverwirklichung ganz klar nicht Teil der fdGO sind. Damit aber ist ein Konflikt über dieses Mittel grundsätzlich legitim. Das hat gute Gründe. Mittelkonflikte sind in der freiheitlichen Gesellschaft ausdrücklich gewünscht. Sie basiert auf dem Leitgedanken, dass gerade nicht offenkundig ist, was funktioniert und was nicht.

Darum kann es nicht überzeugen, die CSR-Berichtspflichten durch ein geistloses Checkboxing, angereichert mit etwas Storytelling, erfüllen zu wollen. Dies verkennt die wirkliche gesellschaftliche Verantwortung der Unternehmer: nämlich, dass sich Unternehmen als Bürger an der Diskussion und Schaffung von Wertmaßstäben beteiligen.

Anknüpfen an eine Tradition des „Entrepreneurial Citizenship“

Unternehmerisches Denken und Handeln war vor allem in Deutschland mehr als eine reine Bourgoise, das Besitzbürgertum, dass sich nur für die eigene Rendite interessierte. Der Citoyen, der Citizen, also der politische Bürger, war hierzulande ein kraftvolles Leitbild. Mit guten Folgen: Viele Regelungen zu Arbeitsschutz, Arbeitnehmerversicherungen und sozialem Wohnen von Unternehmern wurzelten in den Erfahrungen von Unternehmern, die vorangingen und probierten. Dabei haben sie auch so manches an Zeitgeist ihrer Epoche hinterfragt. Sie waren wünschenswert kontrovers – trugen neudeutsch gesprochen zur „Diversity“ des öffentlichen Meinungsstreites bei. Weder die Politik noch die Finanzmärkte oder CSR-Wächter sind die Vorhut einer Gesellschaft und im Besitz alleinig wahrer Kriterien guten Unternehmertums.

An diese Tradition des „Entrepreneurial Citizenship“ darf eine glaubwürdige ESG-Kommunikation anschließen. Sie muss weder die Standards widerspruchslos übernehmen, noch muss sie den Anspruch auf Perfektion, den eine zunehmend moralisierende Öffentlichkeit an sie stellt, erfüllen. Unternehmen dürfen selbst experimentieren, informieren und argumentieren – also gesellschaftlich und politisch Führung ausüben: ob in der Nachhaltigkeitskommunikation, der CSR-Kommunikation oder der Governance- und Compliance-Kommunikation. Diese lebendige Kultur eines demokratischen Diskurses müssen wir alle, und insbesondere auch Unternehmer im 21. Jahrhundert, aufrechterhalten.

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